Montag, 25. Januar 2016

Aufklärung via "Tatort"?

Quelle: ARD
Wie 9,69 Millionen andere Zuschauer/innen habe ich mir gestern Abend den Saarbrückener Tatort "Totenstille" angeschaut. Das Thema war diesmal besonders interessant und dadurch auch 'anders': Es drehte sich alles um Gehörlosigkeit. Kommissar Jens Stellbrink lernt für einen Mordfall - und offensichtlich auch aus 'persönlichen Gründen', sprich: weil es ihm für die zwischenmenschliche Kommunikation wichtig erscheint - Gebärdensprache.
Die SPIEGEL-Online-Redaktion kommt, meiner Meinung nach, zu einem deutlich überspitzten und verfehlten Urteil, wenn sie schreibt, dass der Kommissar außerdem "ein paar umständliche Selbstexperimente in Sachen Gehörlosigkeit" macht. Auch eine deutschlandweit bekannte Inklusionsexpertin nennt diesen Tatort einen "Erklärbar-Tatort", bei dem "alles so gewollt aufklärerisch [ist], dass es peinlich wirkt". Das finde ich persönlich sehr schade. Radikalmeinungen seitens Online-Magazinen sind ja mittlerweile an der Tagesordnung. Aber dass auch Personen, die stellvertretend für das Thema Inklusion stehen, dafür kämpfen, sich dafür einsetzen, sich so sehr über diese Art der 'Aufklärung' aufregen, verwundert mich.
 
Ich kann nur von meiner Perspektive aus sprechen:
Durch meine Cousine, die eine geistige und körperliche Behinderung hat, bin ich persönlich erst mit dem Thema 'Behinderung' in Berührung gekommen. Ich bin damit aufgewachsen. Aber Millionen von Menschen geht das nicht so. Sie haben vielleicht noch nie ein Wort mit einer Person mit Behinderung gewechselt, wissen nicht, wie sie auf sie zugehen sollen, ob man 'behindert' überhaupt sagen soll (mehr dazu hier). Interessanterweise bezeichnet meine Cousine sich übrigens selbst als 'behindert' oder 'Behinderte'. Erst durch mein 'Eintauchen' in die 'Inklusionscommunity' habe ich gelernt, dass viele diese Begriffe als diskriminierend empfinden und dass man besser 'Mensch mit Behinderung' sagt.
Was ich damit sagen will: Wir lernen und erfahren Dinge nur, wenn wir auch darüber aufgeklärt werden. Das ist der Grundgedanke von Bildung/Erziehung. Wo soll ich sonst Dinge lernen, außer in der Schule, in einem Buch, in einem Gespräch etc.? Ohne Aufklärung erfahren wir nichts. Heutzutage gibt es so viele Möglichkeiten, sich Informationen über bestimmte Themengebiete einzuholen. Das Internet ist eine Quelle, aber auch das Fernsehen und das klassische Medium: das Buch. Ich habe mein Buch 'Im Rollstuhl nach Florenz' in erster Linie nicht als Abenteuerroman verfasst, sondern als Aufklärungsbuch. Es soll jungen Leser/innen einen Einblick in die Gefühlswelt eines 13-jährigen Mädchens bieten, das im Rollstuhl sitzt. Dass dessen Behinderung kein Hindernis für ein grandioses Abenteuer ist, ist die versteckte Botschaft, die hoffentlich jeder entdeckt. Mareice Kaiser, Bloggerin auf www.kaiserinnenreich.de, spricht von der wundervollen aufklärerischen Möglichkeit, die Kinderbücher bieten:

"Den Weg zu einer inklusiven Gesellschaft ebnen können (Kinder-)Bücher.
Deshalb freue ich mich über Verena Freunds Buch "Im Rollstuhl nach Florenz".
Es wird schnell klar: Nicht der Rollstuhl ist die Behinderung der Protagonistin Sophie, sondern die Treppenstufen. Sophie ist nicht behindert, sie wird behindert. Ein wichtiges Thema, auch für Kinder, die oft viel selbstverständlicher mit menschlicher Vielfalt umgehen als die Erwachsenen."

Warum soll also nicht auch ein "Tatort" uns über einen Bereich menschlicher Vielfalt aufklären? Ich selbst hatte, wie ich gestehen muss, selbst nie Kontakt zu einem gehörlosen Menschen, war mir über die Begrifflichkeiten auch nicht im Klaren. Ein Film kann da schon hilfreich sein (sollte aber natürlich nicht als die primäre und verlässlichste Informationsquelle genutzt und betrachtet werden).
Ich kenne auch Personen, die über sogenannte 'Rollstuhl-Experimente' schimpfen (d.h. Rollstuhl-Parcours für Menschen ohne Behinderung oder 'Ich setze mich einen Tag lang in einen Rollstuhl, um mich in Menschen mit Behinderung hineinversetzen zu können'). Natürlich können wir damit nur annäherungsweise eine 'Gefühlsparallelität' simulieren, aber dennoch ist dies, meiner Ansicht nach, ein erster Schritt in Richtung Aufklärung, gerade bei den Jüngsten unserer Gesellschaft.
 
Ich finde: Wir sollten alle an einem Strang ziehen und nicht diejenigen Personen/Institutionen/Medien/etc. verurteilen, die wenigstens den VERSUCH wagen, Inklusion anschaulich darzustellen und auf Probleme in unserer Gesellschaft hinzuweisen. Wir müssen jede Möglichkeit nutzen, die sich uns zum Vorantreiben von Inklusion bietet. Das bedeutet in erster Linie: Improvisation, jede Menge Geduld und Kraft, leider auch Geld. Aber es bedeutet auch: Toleranz, Im-Kleinen-Beginnen, Offensein für Neues, für Vielfalt, für Leben. Inklusion funktioniert nur mittels Aufklärung. Das ist mein Standpunkt. Wie ist eurer?

PS: Ob der "Integrationsauftrag" des Tatorts tatsächlich, wie SPIEGEL behauptet, "nicht erfüllt wird", kann ich nicht beurteilen. Auch mir ist bewusst, dass dort einiges 'im Argen ist' (Stichwort: 'Lippenlesen'). Aber mir persönlich hat der Tatort zumindest die Augen geöffnet und mir die Hand gereicht, um ein weiteres Inklusionsfeld zu erkennen und kennenzulernen. Schade, dass wir immer dazu neigen, gleich alles schlecht zu machen...

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