Donnerstag, 7. Januar 2016

How to do things with words

"How to do things with words" - so nannte John L. Austin (1911-1960), der Begründer der Sprechakttheorie, eines seiner wichtigsten linguistischen Werke; auf gut Deutsch und auf meinen Post übertragen: "Was man so alles mit Wörtern anstellen kann". Austin stellte fest, dass unsere Aussagen, die wir treffen, immer dreigeteilt sind: Wenn wir sprechen, entlocken wir unserem Mund Wörter (Teil 1) - das ist der einfachste und weitaus weniger schlimme Teil der Theorie. Außerdem hat jede unserer Aussagen eine bestimmte "Rolle": entweder machen wir bloß eine Feststellung, wir entschuldigen uns bei jemandem, beleidigen jemanden, befehlen unserem Gegenüber etwas usw. (Teil 2). Hier geht's also schon ans Eingemachte. Und  (Teil 3) mit unserer Äußerung ist zwangsläufig auch eine Folge verbunden: Wenn ich einen Befehl erteile, will ich auch, dass dieser Befehl befolgt wird. Und da wären wir also beim Knackpunkt angelangt.

Gehen wir diese Theorie mal an einem Fallbeispiel durch - fast wie in der Schule! Ich bin in der Fußgängerzone. Mir begegnet eine Person. Sie sagt zu mir: "Du bist ja voll behindert!" Ist das, auf Teil 2 der Theorie bezogen, eine Feststellung oder eine Beleidigung? Womöglich sogar beides? Und was ist, auf Teil 3 bezogen, die Folge dieser Äußerung? Dass ich beleidigt und/oder traurig bin, möchte ich behaupten.

Was kann man also alles mit Wörtern "anstellen"? Wörter können verharmlosend, aber auch beleidigend (s.o.) sein. Mit ihnen können wir etwas feststellen, eine Lawine lostreten, jemanden lieben, jemanden hassen, nett, unfreundlich, zuvorkommend, ausgrenzend sein, eine Hexe oder ein Engel sein. Wörter können Leben retten, sie aber auch zerstören. Sie verbinden Welten und trennen sie. Bauen Brücken, reißen sie ein. Wörter sind Macht. Wörter sind heiße Luft, Bombast, Quatsch, ein Witz, eine Geschichte, eine Erzählung, ein Märchen, eine Lüge, die Wahrheit. Wörter sind unsere Gedanken oder eben das, was die anderen hören möchten. Die Liste ließe sich beliebig erweitern. Wörter können viel "anrichten": viel Positives, aber auch viel Negatives.

Was das Wort "behindert" alles anrichten kann, wenn es falsch benutzt wird, nämlich als Schimpfwort, ist längst bekannt. Auch, dass es heutzutage leider Eingang in die Umgangssprache gefunden hat und als Synonym für "doof", "scheiße" oder "verrückt" benutzt wird. Wenn ein Jugendlicher zum anderen sagt "Du bist voll behindert", will er ihn damit vermutlich beleidigen. WIE beleidigend dieses Wort allerdings ist, wissen die meisten gar nicht, da sie sich nie mit dem Thema Behinderung auseinander gesetzt haben. Die Sprache ist ständig im Wandel, und leider denken wir viel zu selten über sie nach. Wenn man die Jugend darauf anspricht, erhält man die Antwort: "So reden wir halt. Das ist gar nicht böse gemeint." Dem ist wohl tatsächlich so. Woher sollen die Kinder und Jugendlichen von heute auch wissen, dass "behindert" oder z.B. auch "schwul" - als Schimpfwort gebraucht - sogenannte gesellschaftliche "Randgruppen" (auch dieses Wort mag ich nicht!) diskriminiert, wenn man nie mit ihnen über solch sensible und ernste Themen spricht? Sie schnappen Wörter auf und übernehmen sie in ihr Vokabular. Das ist ein natürlicher Prozess. Hier müssen v.a. die Eltern, vielleicht auch die Lehrer/Erzieher, andere Erwachsene des (persönlichen) Umfelds nach Möglichkeit "eingreifen", d.h. "Aufklärungsarbeit" leisten. Aber auch die Medien. Oder wir als Blogger, Poster, Schreiber, Internetaktivisten etc. Man sollte (und muss!) nach Alternativen suchen, um seinen "Unmut" kundzutun. Beleidigungen wird es immer geben. Schließlich kann man nicht jeden Menschen gleich gut "leiden". Aber als "behindert" sollte man ihn auf keinen Fall "abstempeln". Auch das Wetter ist nicht "behindert", ebenso wenig der Verkehr, die Schule, der Unterricht, der Lehrer, der Hund oder Nachbars Katze. Vielleicht sind ja all diese Dinge "behinderND"/"blöd"/"doof"/"merkwürdig" oder einfach nur "nervend"?
Think about it!  

In meinem letzten Beitrag habe ich von den "Barrieren in den Köpfen der Menschen" gesprochen. Solche Barrieren sind nicht einfach nur persönliche Einstellungen und Ansichten. Auch unsere Sprache kann dazu gehören, wenn sie unreflektiert zum Einsatz kommt.
In meinem Kinderbuch "Im Rollstuhl nach Florenz" erkläre ich, dass Sophie eine Spastik hat. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet "Krampf". Es beschreibt also den verkrampften Zustand der Muskeln. Das wissen die meisten Kinder und Jugendlichen von heute nicht. Wie sollten sie auch, wenn sie niemanden im Umfeld haben, der so wie Sophie ist? Für unsere Jugend ist "ein Spast" ein Schimpfwort wie "behindert". Früher hätte man vielleicht gesagt: "Der hat nicht mehr alle Tassen im Schrank", heute ist es "ein Spast". Das ist eine, wie ich finde, beunruhigende Tendenz. Auch hier gilt es, gemeinsam mit den Kindern nach Alternativen zu suchen, mit ihnen über das Thema zu sprechen, sie aufzuklären. Dann wird Teil 3 von Austins Theorie, die Folge, hoffentlich weitaus harmloser ausfallen. Harmloser und reflektierter.

How to do things with words (Quelle: http://spiritofcontradiction.eu/wp-content/uploads/2015/10/words.jpg)
Zum Schluss ein weiteres kleines Gedankenexperiment:

Beim Thema "How to do things with words" schlagen zwei Herzen in meiner Brust: jenes der Pädagogin und jenes der Autorin. Wenn ich in einem Buch schreibe, dass Sophie "an den Rollstuhl gefesselt ist", geht mit Sicherheit sofort ein Aufschrei durch die Inklusions-Community: Ein Rollstuhl ist gleichsam der "Beinersatz" eines Menschen mit Behinderung. Er ist ein Teil dieses Menschen, sein wichtigstes Hilfsmittel und keine Fessel!
Wenn ich "gefesselt" schreibe, spricht aber die Autorin aus mir, und nicht die Pädagogin, auch nicht die Frau, die sich für Inklusion einsetzt. Sophie ist 13 Jahre alt, kommt allmählich in die Pubertät und tut im Moment eines besonders gerne: sich mit anderen Menschen vergleichen. Mit der Konsequenz, dass sie feststellt, was andere Kinder in ihrem Alter können und was sie nicht kann. Sie denkt da z.B. an Sackhüpfen, Herumtoben, Seilspringen usw. All das kann sie aufgrund ihrer Behinderung nicht tun. In diesem Moment empfindet sie den Rollstuhl also (vermutlich) als Last... Zumindest drückt es das Wort "gefesselt" aus, nicht wahr?
Ob und inwiefern sich Sophies Ansichten wandeln, erfahrt ihr ab dem 26. Februar 2016 in meinem Buch. Nur so viel darf ich verraten: Ich denke, dass die jungen Leser/innen sehr schnell feststellen werden, dass der Rollstuhl eben doch keine "Fessel" für Sophie darstellt. Wenn ich dieses Bild konsequent darstellen würde, wäre ich wohl doch zu sehr Autorin und zu wenig Inklusionsaktivistin. Dann würde wohl doch nur ein Herz in meiner Brust schlagen ...

Fazit: Wörter können zu Missverständnissen führen, zu völlig unterschiedlichen Meinungen und Interpretationen, zu gedanklichen Bildern, sie können uns verärgern, irritieren, uns aber auch zum Nachdenken animieren und dazu führen, dass wir unsere anfängliche Meinung revidieren.
Das ist - Teil 2 nach Austin - eine Feststellung, mit der Folge - Teil 3 nach Austin - , dass wir uns hoffentlich in Zukunft stets (mehr) Gedanken machen über das, was wir da eigentlich sagen ...

Viel Spaß beim "doing things with words" - und immer wachsam sein! 

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